Steppenwolf der Kleinen Narrenstadt

Für Jens Hackel war die Beschäftigung mit Kunst eine beständige Auseinandersetzung mit Sinnfragen. Er las, er hörte Musik und vor allem zeichnete, druckte und malte er. Es scheint paradox, dass er als Zwölfjähriger in der Schule bei Zeichenwettbewerben mit farbenfroh gemalten Bildern zum allgegenwärtigen Thema „Schutz des Weltfriedens“ Beachtung fand. Der Junge, der ohne eigenen Vater aufwuchs, wollte zu den Soldaten. Doch als er auf eigenen Beinen stehen und mit eigenen Augen sehen gelernt hatte, begann er, gegen die Enge und Beschränktheit im Lande zu opponieren. Sprüche, wie „Euch gehört die Macht, aber uns gehört die Nacht“, gehörten in der Jugendzeit zur Überlebensstrategie seines Freundeskreises, im Nachhinein tat er sie als „pubertäres Revoluzzergelaber“ ab. In den letzten Tagen der DDR wurde er von der Staatssicherheit „in Schutzhaft“ genommen. Die traumatischen Eindrücke dieser Zeit verfolgten ihn für den Rest seines Lebens.

Grundsätzlich schien die ersehnte Freiheit des Geistes in der neuen Ordnung möglich, doch wie viele andere Künstler fühlte Hackel sich bald vogelfrei. Sein Beruf und kurzfristige Jobs zum Broterwerb konnten ihn nicht befriedigen. Sein wichtigstes Anliegen hatte er in der Malerei gefunden. Im nunmehr von Rolf Werstler geleiteten Bischofswerdaer Malkreis und in der Interessengemeinschaft Carl Lohse, zu deren Initiatoren Hackel zählte, formierte sich ein neuer, enger Freundeskreis. Hier wurden praktische und theoretische Aspekte der Kunst erörtert. Hier wurde der Nachlass des Bischofswerdaer Expressionisten Carl Lohse gesichtet und bearbeitet und schließlich die Carl-Lohse-Galerie eröffnet. Hier wurde auch gefeiert. Mit der Bildung der Freien Gruppe Oberlausitz intensivierte sich die freundschaftlich kollegiale Verbundenheit mit den Malern Rolf Werstler,Falk Nützsche, und dem Bildhauer Thomas Franz.
1992: Selbst aus der Wohnung
schleichend (Radierung)
1994: Einladung in die
Bischofstraße 1 (Radierung)
Als Gruppe konnten sie eine Reihe gemeinsamer Aus-stellungsprojekte und Studienreisen realisieren. Dafür brauchten sie kein Manifest. Ihre Temperamente waren unterschiedlicher Natur, allein schon die gemeinsamen Interessen beflügelten sie. Keiner wollte den anderen künstlerisch umerziehen, so setzte die kontinuierliche Reibung an der Auffassung der Anderen Energie frei. Zu Jens Hackels Arbeitsspektrum gehörten Landschafts- und Städtebilder, Stillleben und Porträts, mit denen er das Zeitgefühl seiner Umgebung analysierte. Der Wert des Beständigen interessierte ihn in Relation zu kreativer Modernität. Oberflächliche Effekte und kurzlebige Moden mied er. Aufmerksam beobachtete er seine Zeitgenossen, las in ihren Gesichtern. Es waren keine jungen Mädchen, die er porträtierte und auch keine erfolgverwöhnten Manager oder Politiker, sondern Menschen von der Straße. Meist Männer seiner Generation oder ältere, die sich am Bahnhof herumtrieben, die aus verschiedenen Gründen ihren Platz im Leben nicht gefunden hatten. Er skizzierte, radierte, schnitt in Holz und Linoleum oder malte sie in Öl. Clowns oder Seiltänzer, Sänger, Trinker oder Verzweifelte. Auch die eigene Person und ihr unmittelbares Umfeld unterzog er beharrlich der kritischen Selbstbefragung. Eine kleine Kaltnadelradierung von 1992 zeigt ihn mit sarkastischem Humor, fast karikaturistisch „Selbst aus der Wohnung schleichend“. Das Kaltnadelverfahren, bei dem die Druckplatte kraftaufwändig mit der Nadel gegen den Materialwiderstand aufgerissen wird, ist für die Herausarbeitung emotional aufgeladener Themen gut geeignet. Jede Linie und jede Schraffur erfordert Entschiedenheit und duldet keine Korrektur. 1994 gewährte Hackel in dieser Technik einen Einblick in sein Atelier und formulierte zugleich eine Einladung zu „Ölhering, Hackepeter und Brot“, doch sollten die Gäste „eventuell was zum Sitzen mitbringen“. Vergleichsweise ruhiger, fast feierlich wirkt demgegenüber sein handgedrucktes Plakat für eine Ausstellung der Freien Gruppe im gleichen Jahr, das er als Holzschnitt ausgeführt hatte. In dieser Zeit testete er Möglichkeiten und Grenzen verschiedener grafischer Techniken bewusst aus.Als Malmittel hingegen bevorzugte er fast ausschließlich Öl. Die intensive Beschäftigung mit dem Werk Carl Lohses hatte sein Farbbewusstsein gestärkt, und es entstand die expressive Farbfassung der „Seiltänzer“ in kühn übersteigertem Scheinwerferlicht. Ein Bild, dass seine enorme Spannung einerseits aus der Korrespondenz zweier greller Gelbflächen erhält, andererseits durch die instabilen, sich gegenläufig kreuzenden Aktionslinien der beiden Figuren im oberen Bilddrittel. Außerdem erhöhte der Maler, indem er die Wucht eines flächigen Lichtkegels durch pastos aufgetragenes Weiß etwas zurücknahm, dennoch zugleich dessen Leuchtkraft. Solcherart Erfahrungen, die er dabei mit der Lichthaltigkeit der Farben sammelte, klangen auch in späteren Werken, beispielsweise in den irischen oder böhmischen Reiseimpressionen, noch nach.
Andere Arbeiten wiesen, bewusst oder unbewusst, auf Geistesverwandtschaften mit anderen Künstlern hin; dem frühen van Gogh etwa, wenn er wie dieser eine Reihe kahler Bäume an einer winterlichen Kleinstadtstraße malte, deren ausladendes Astwerk skelettartig gestikulierend einen beständigen, trotzigen Überlebenskampf versinnbildlicht. Trotz Winterdüsternis bringen die Kontraste von Ruhe, Bewegung und Farbtonigkeit eine Dialektik ins Bild, die der Schwermut entgegenwirkt. Beiden ging es weniger um ein naturgetreues Abbilden, als um jenes charakteristische Aufbegehren „knorrig und verbiesterter Zweige“, das 1884 schon van Goghs zeichnerisches Können im elterlichen „Pfarrgarten“ herausforderte, so dass er angesichts der zackiggekrümmten, ineinandergreifenden Weidenzweige, die er mit dem Kreislauf von Entstehen und Absterben, Kämpfen und Verzagen verband, an seinen Bruder schrieb: „Mit Leidtun (…)  kommt man nicht weiter, sondern durch- und vorwärtswürgen muss man sich“, wie die Äste der Weide (Vgl. v. Gogh: Sämtliche Briefe, 6 Bände, Berlin 1966-68, Nr. 148, 221 und 273)
.
Deutlicher noch offenbarte sich eine Affinität zu Morandi: Ging es Hackel in seinen früheren Stillleben darum, verschiedene Aspekte gleichzeitig - neben dem Erfassen des Gegenständlichen auch das Räumliche und das Farbperspektivische - ins Bild zu bringen, wichen diese mehrschichtigen Ansätze in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre einer immer klarer formulierten Bescheidung. Ähnlich wie der Italiener baute Hackel seine späteren Arrangements bildparallel in überschaubarer Einfachheit. Damit gelangte er zu solider Formbestimmung einiger weniger Objekte, zu denen reizvoll geformte Flaschen, Kannen und Krüge ebenso gehörten, wie der rustikale, in der Lausitz traditionelle blauweiß gepunktete Steinguttopf. Sowohl in der Malerei als auch in der Grafik tauchten diese Dinge in unterschiedlichen rhythmischen Gruppierungen, in geradezu meditativer Betrachtung immer wieder auf, bis sie, das Vorbild Morandi überwindend, jedes einzelne zu individuell beseelten Weggefährten Hackels geworden schienen. Mit verschiedenen Ätz- und Radierverfahren übertrug er auf die Grafik, was er beim Malen erkannt hatte: dass Licht nicht nur durch punktuelles Aufsetzen von hellen Akzenten gewonnen wird, sondern durch eine generelle Auflichtung des gesamten Blattes, bei gleichzeitiger Verringerung von Kontrasten. Dies belegen verschiedene Zustandsdrucke von Stillleben, Porträts und Landschaften, die als Variationen von Ölbildern erkennbar blieben. Mit Ausdauer widmete er sich auch Motiven einzelner Häuserzeilen und Plätze seiner Heimatstadt, verfolgte und dokumentierte unter anderem verschiedene Stadien zum „Abriss“ freigegebener Objekte.
1994: Ausstellungsplakat der Freien Gruppe Oberlausitz (Holzschnitt)
2009: 3 Clowns (Radierung)
Indem er an den benachbarten stehengebliebenen Brandmauern noch die Baugliederung und Details der einzelnen, verlorenen Wohneinheiten sichtbar beließ, verlieh er unbewusst seinem Ärger Ausdruck, dass die historisch gewachsenen kleinstädtischen Strukturen verfielen und zerstört wurden, ohne dass eine adäquate wertgebende moderne Neubebauung oder Umnutzung absehbar gewesen wären. Hackel kannte Bischofswerda so gut wie keine andere Stadt, und er wusste sie mit anderen Stätten, mit nordirischen Cottages, venezianischen Stadtpalästen am Canale oder dem „Goldenen Prag“ mit der Karlsbrücke und dem Goldmachergässchen zu vergleichen. Am Ufer der Moldau fand er auch das „Tanzende Haus“, ein modernes Architekturensemble, das an eine Tänzerin im gläsernen Faltenrock erinnert, die sich an einen Herrn mit Hut schmiegt. Dieser dekonstruktivistische Bau, der im Volksmund auch „Ginger und Fred“ genannt wird, regte ihn zu mehrfacher Gestaltung an. Aber Legendenbildung findet immer wieder und auch in Bischofswerda statt. Hier erfasste Hackel beispielsweise das von unrühmlichen, durch übernächtigte Zecher geschändete „Seechgässl“, dem er in einem hochformatigen Ölbild eine verschwiegen wissende, heitere Würde wiedergab. Im Holzschnitt „Kleine Narrenstadt 2005“ allerdings ließ er sarkastisch einen wohl golden gemeinten Engel am Marktplatz wahre Sturzbäche bitterer Tränen heulen. Suchte er andere Städte auf - Berlin oder Hamburg - waren es wieder die Viertel, die von alltäglichen Lebensrhythmen beherrscht waren, die er als Motiv ins Auge fasste. Da er auf Staffagefiguren verzichtete, lag über all seinen Stadtlandschaften ein Hauch von Verlassenheit und Melancholie. Wandte er sich den Menschen zu, nahm er sie groß ins Bild. Mitunter porträtierte Hackel sich selbst als Clown - mit der Maske, die lachend  alle Ängste, Wut und Bedrängnis verbergen konnte. In der Literatur fand er Identifikationsfiguren wie Walter Rheiners Tobias und Hermann Hesses Steppenwolf, die von tiefer seelischer Zerrissenheit bis zur Selbstzerstörung getrieben wurden, wenn es ihnen nicht gelang, lachend die eigene Unvollkommenheit und die der sie umgebenden Gesellschaft zu akzeptieren. Er las diese Werke mehrfach, reflektierte einzelne Textpassagen in seinen zeitweise geführten tagebuchartigen Aufzeichnungen, in die er auch erste bildhafte Ideenskizzen einfließen ließ. Den von Phobien gehetzten „Tobias“ fixierte er kurz darauf in einer Radierung. Den um nüchterne Analyse bemühten Harry Haller, den „Steppenwolf“, in expressiven Farbholzschnitten. Hier tauchte die surreale, schemenhafte Gestalt des Nachtdämonen wieder auf, die er bei einem Entwurf für den Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel geschaffen hatte. Dessen Verse, „An mich nachts“, bezog er in Gedanken ganz auf sich selbst, zitierte sie sinngemäß mit seinem eigenen, statt Wenzels Namen, um sich zu Ruhe und Entspannung zu zwingen: „…Mensch, Hackel, schlaf! Wie bist Du auf den Hund gekommen. Ich habe mir für morgen so viel vorgenommen…“. Die Realisierung eines angesponnenen gemeinsamen Projektes, vielleicht einer Cover-Gestaltung, verlief sich im Sande, aber die Figur des Dämons erschien seitdem in Hackels Arbeiten immer wieder: Anfangs erschreckend und selbst wie erschrocken. Bald aber trat sie, im Ölgemälde „Selbst im Januar 2006“ und in verschiedenen Radierungen als behutsamer „Melancholie“-Engel auf, in dessen Armen sich der Künstler geborgen fühlte. In dieser fiktiven Figur hatte Hackel einen Ausdruck für sein Alter Ego gefunden, das schließlich als selbständiges surreales Wesen in seinen Bildern agierte. Wie ein Gewissen positionierte er es mitten in das Bild „Stillleben im Stillleben 2009“, fragend, ob vom Werk des Malers Hackel wohl etwas Bestand haben würde. Seine Malerei, durchdrungen von zeichnerischen Elementen, hatte eine angespannt-elegante Leichtigkeit gewonnen, die sich auch in einer seiner letzten größeren Arbeiten, dem „Kleinstadtjanuar“ zeigte. Er empfahl darin seine Stadt Bischofswerda der Obhut der von ihm geschaffenen Figur, die mittlerweile allen Schrecken verloren hatte, und wie ein Schutzengel über dem tief verschneiten Marktplatz schwebte, um seine Hand nach dem neu errichteten Stahlmonument zu strecken. Künstler, heißt es, seien die Seismographen ihrer Zeit und der Gesellschaft, in der sie lebten.
Es genügt nicht, diesen Satz postum immer wieder bestätigt zu finden. Künstler wie Jens Hackel brauchen eine Öffentlichkeit, die aufgeschlossen und bereit ist, sich mit ihren Werken und mit ihrer Sinnsuche auseinanderzusetzen, damit Unvollkommenheiten greifbarer werden können. Damit Steppenwölfe nicht ihren letzten Trumpf ausspielen müssen.
Dr. phil. Jördis Lademann
Oktober 2011
1993: Berliner Skizze (Tusche)

Jens Hackel in der Presse